Samstag, 4. September 2010

Psycho-Mode

Kopie genehmigt von Autor und Verlag

Opferentschädigung – Dissoziative Identitätsstörung als Folge sexuellen Missbrauchs?


Ein Zwischenbericht

von Jürgen Voß, Leitender Regierungsdirektor vom Versorgungsamt Hannover

aus ZfS 4/2005,S 100, Asgard Verlag,Sankt Augustin,


ZfS:Das Zentralblatt für Sozialversicherung,Sozialhilfe und Versorgung









1. Einleitung



Seit Ende der 90‘er Jahre sind in einer Reihe von Fällen Anträge auf Gewährung von Versor-gung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) von Frauen gestellt worden, die vortragen, dass die bei ihnen bestehenden psychischen Störungen auf sexuellem Missbrauch seit der frü-hesten Kindheit durch Personen aus dem familiären Umfeld beruhen. Nicht selten wird angege-ben, dass sie fortdauerndem sexuellen Missbrauch seit dem 1. Lebensjahr ausgesetzt gewesen seien.



Weiter wird vorgetragen, dass sie den sexuellen Missbrauch völlig vergessen und sich erst viele Jahre später, zumeist im Zusammenhang mit einer stationären oder ambulanten psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Behandlung, wieder erinnert hätten. Das völlige Vergessen wird damit erklärt, dass bei ihnen eine „dissoziative Identitätsstörung“ vorliege, bei der die Erinnerung an schwerste Traumata durch Aufspaltung in verschiedene innere Persönlichkeits-anteile (Multiple Persönlichkeit) „abgelegt“ werde. Hierbei handele es sich um eine Überlebens-strategie des kindlichen Gehirns.

Aber auch in Fällen mit anderer Diagnose sind Anträge mit der Behauptung gestellt worden, dass der sexuelle Missbrauch völlig vergessen und erst vor kurzem wieder erinnert worden sei.



Auffällig ist, dass die Antragstellerinnen sich häufig außerstande sehen, Einzelheiten der se-xuellen Missbräuche zu beschreiben. Sie verweisen insoweit auf ihre behandelnden Psychothe-rapeuten, die Einzelheiten des Geschehens beschreiben könnten. Aus den Therapieberichten ergeben sich gerade in diesen Fällen häufig Schilderungen eines extremen sexuellen Miss-brauchs seit frühester Kindheit. Es werden ritualisierte Missbräuche im Rahmen von satanischen Sekten geschildert, bei denen die Patientin z.B. auch Zeugin von Kindestötungen geworden sei. Die Bandbreite der geschilderten sexuellen Missbräuche ist beeindruckend, wirft aber gerade auch aufgrund der Häufigkeit der Darstellung von extremsten Missbräuchen die Frage nach dem Wahrheitsgehalt auf.



In der Praxis der Versorgungsämter stellt sich die Bearbeitung dieser Fälle als ausgesprochen problematisch dar, weil die Aufklärung des Sachverhalts mit erheblichen Schwierigkeiten ver-bunden ist. Die Bandbreite der Schwierigkeiten reicht von der Geltendmachung des Aussage-verweigerungsrechts gegenüber nahen Verwandten über fehlende genaue Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch bis zur Einflussnahme auf die Durchführung des Ermittlungsverfahrens. Nicht selten ist im Zusammenhang mit Maßnahmen der Beweiserhebung auf die Gefährdung der Gesundheit, ja sogar auf die Gefahr eines Suizids hingewiesen worden.



Die Auseinandersetzung mit diesen Fällen hat – bei aller Vorläufigkeit – inzwischen Ergebnisse erbracht, die von allgemeinem Interesse sein dürften.





2. Ein Beispielsfall (Teil 1)



Die Antragstellerin, geb. 1968, hatte die Gewährung von Versorgung nach dem OEG mit der Begründung beantragt, dass die bei ihr vorliegenden psychischen Störungen auf sexuellen Missbrauch durch ihren Vater in der Zeit vom 3. bis 13. Lebensjahr (1971 - 1981) und ihren Pflegevater vom 14. bis 16. Lebensjahr (1982 - 1984) zurück zu führen seien. Eine Beschrei-bung der erlittenen Missbräuche war ihr nicht möglich. Sie verwies auf ein staatsanwaltschaftli-ches Verfahren, in dem gegen den Pflegevater wegen des Verdachtes des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, u.a. mit Todesfolge, des Kinderhandels und der schweren Körperver-letzung ermittelt worden ist. Aus den staatsanwaltschaftlichen Unterlagen ergaben sich einzelne Beschreibungen eines sexuellen Missbrauchs von Seiten der Antragstellerin.

Dagegen fehlten Beschreibungen zum angegebenen langjährigen sexuellen Missbrauch durch den leiblichen Vater.

Tatzeugen konnten nicht benannt werden und die Antragstellerin erklärte darüber hinaus, dass an die Täter auf keinen Fall herangetreten werden dürfe.



Aus den beigezogenen Unterlagen über die zahlreichen stationären psychiatrischen Kranken-hausaufenthalte seit 1984, also im zeitlichen Anschluss an das Ende des im Antrag angegebenen sexuellen Missbrauchs, bis Mitte 1991 ergaben sich keine Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch durch Vater und Pflegevater. Die zuletzt durch ein Universitätskrankenhaus gestellte Diagnose lautete: „Paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“.



Seit Mitte 1991 begann die Antragstellerin eine ambulante psychotherapeutische Behandlung. Aus einem Therapiebericht der behandelnden Psychotherapeutin aus dem Jahr 1995 ergab sich erstmals die Angabe, dass die Patientin in der Zeit vom 3. - 13. Lebensjahr von ihrem Vater sexuell missbraucht worden sei.

In einem weiteren Therapiebericht aus dem Jahre 1997 fand sich die Angabe, dass „zusätzlich schwere Traumata durch den Pflegevater erinnert wurden, der sie extremen sadistischen se-xuellen Misshandlungsritualen unterwarf und zur Prostitution zwang“. Die Therapeutin führte dazu aus, dass der sexuelle Missbrauch durch den Pflegevater am Anfang der Therapie nicht bekannt gewesen, sondern erst im Laufe der Therapie von der Patientin erinnert worden sei. Zugleich stellte die Therapeutin die von der bisherigen Diagnose abweichende neue Diagnose „Dissoziative Identitätsstörung (multiple Persönlichkeit)“, verbunden mit dem Hinweis, dass sich die Patientin in 12 verschiedene Innenpersonen aufgespaltet habe.

Schließlich ergänzte die Therapeutin in ihrem weiteren Bericht aus dem Jahre 1998 die Darstel-lung dahin gehend, dass die Patientin über weitere Traumata durch rituelle Misshandlungen berichtet habe, bei denen sie Zeugin von qualvollen Folterungen eines anderen Kindes geworden sei.



Den Beschreibungen der Therapeutin waren über die allgemein gehaltenen Angaben zum se-xuellen Missbrauch hinaus keine weiter gehenden Informationen zu einzelnen Tathandlungen zu entnehmen.



Zusammenfassend ist festzustellen, dass im Hinblick auf Aussageentstehung und -entwicklung in den Jahren von 1984 bis 1991 trotz zahlreicher psychiatrischer und auch psychotherapeuti-scher Behandlungen von der Antragstellerin kein Hinweis auf den angeblich bis 1984 langjährig andauernden sexuellen Missbrauch gegeben worden war. Erst mit Beginn der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung seit Mitte 1991 kam bei der Patientin die Erinnerung an einen sexuellen Missbrauch hoch. Im Verlaufe der weiteren, über mehrere Jahre andauernden Therapie fanden sich ausweitende Beschreibungen von sexuellen Missbräuchen mit der Ten-denz zu immer extremeren Tathandlungen.

(Fortsetzung unter Nr. 7)





3. Das Krankheitsbild der „dissoziativen Identitätsstörung“ und die Diskussion über die Ursachen



Die „Dissoziative Identitätsstörung“ (auch Multiple Persönlichkeitsstörung) ist in dem Klassifika-tionssystem der ICD 10 unter F44.81 aufgeführt und damit international als Krankheit anerkannt.

Zu den entscheidenden Merkmalen der Erkrankung gehören Gedächtnisprobleme, Trancezu-stände, quälende innere Stimmen und offensichtliche Anzeichen für Handlungen oder Verhal-tensweisen, an die man sich nicht erinnern kann. Die Dissoziation stellt sich als eine Form der Reaktion und Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen dar. Dabei dient der Mechanismus der Dissoziation in mehrere Persönlichkeitsanteile als eine Art Schutzfunktion, um bei schwer-sten traumatischen Erlebnissen lebensfähig bleiben zu können.

Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 80 v.H. der von einer dissoziativen Identitätsstörung betroffenen Personen Frauen sind. An einer dissoziativen Identitätsstörung Erkrankte würden in bis zu 90 v.H. der Fälle sexuellen und körperlichen Missbrauch schildern. Dokumentiert seien aber auch Schilderungen von emotionaler Grausamkeit, extremer Vernachlässigung, Armut oder das Miterleben eines gewaltsamen Todes 1.



Nach den bisherigen Erfahrungen des Verfassers aus der Bearbeitung der Fälle fand sich be-stätigt, dass die Therapeuten, die sich vornehmlich mit der Diagnostik und Behandlung von dis-soziativen Identitätsstörungen befassen, stets von schweren Traumatisierungen im frühkindli-chen Alter ausgegangen sind. Regelmäßig wurden Traumatisierungen durch sexuellen Miss-brauch ab dem 3. Lebensjahr, aber auch ab dem 1. Lebensjahr angegeben.



Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass von anderer Seite erhebliche Zweifel an dem regelmäßig als Ursache der dissoziativen Identitätsstörung benannten sexuellen Missbrauch angemeldet worden sind. So ist von einigen Autoren darauf hingewiesen worden, dass die Möglichkeit des Entstehens von „falschen Erinnerungen“ aufgrund der Psychotherapie (sog. False Memory Syndrom) ernsthaft in Erwägung gezogen werden müsse 2. Hierbei wird davon ausgegangen, dass durch (unbeabsichtigte) suggestive Einwirkungen Erinnerungen verfälscht werden können oder sogar neue Erinnerungen entstehen, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, also falsch sind. Dabei werden „falsche Erinnerungen“ von der Patientin wie richtige Erinnerungen erlebt 3.



Ferner hat es in den USA inzwischen Schadenersatzprozesse von Patientinnen gegeben, die durch fehlerhafte Behandlung in der Psychotherapie Erinnerungen an extreme sexuelle Miss-bräuche hatten, was jedoch nicht den Tatsachen entsprach. Den Patientinnen sind in einzelnen Fällen hohe Schadenersatzsummen zugesprochen worden 4. Auch in Deutschland gibt es nach einem von der ARD ausgestrahlten Filmbericht (Titel: Multiple Persönlichkeiten – Wahn der Therapeuten?) vom 27.08.2003 einen ersten Fall, in dem eine Patientin bestreitet, die in der Therapie erinnerten Gewalterlebnisse erlitten zu haben. Sie hat Klage gegen ihren Therapeuten erhoben.



Wie kontrovers sich die Auseinandersetzung inzwischen darstellt, lässt sich auch einem Infor-mationsblatt des Vereins zur Aufklärung über Dissoziation als Überlebensmuster, VIELFALT e.V., Bremen entnehmen. Dort ist ausgeführt worden, dass „fast 99 v.H. aller Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung als Kleinkinder lebensbedrohend und chronisch traumatisiert worden sind, und zwar durch sexualisierte Gewalt“. Hierzu ist ohne Fundstelle auf amerikanische und niederländische Studien Bezug genommen worden.





4. Ansprüche nach dem OEG, Beweisanforderungen und Beweiserhebung



Nach § 1 Abs. 1 OEG ist Voraussetzung für die Gewährung von Versorgung, dass die Antrag-stellerin infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Der in den Fällen einer dissoziativen Identitätsstörung vorgetragene Gewalt behaftete sexuelle Missbrauch stellt einen solchen tätlichen Angriff dar. Aber auch der gewaltfreie sexuelle Missbrauch (z.B. die sexuelle Berührung) fällt in den Schutzbereich des § 1 OEG 5. Dabei ist nach dem zeitlichen Geltungsbereich des OEG grundsätzlich zwischen Taten vom 23.05.1949 bis zum 15.05.1976 (Anwendung der Härteregelung des § 10 a OEG) und Taten ab 16.05.1976 (Anwendung unmittelbar des § 1 Abs. 1 OEG) zu unterscheiden.



Erforderlich ist weiter, dass der tätliche Angriff, der sich in diesen Fällen als sexueller Missbrauch darstellt, bewiesen ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bedeutet dies, dass der tätliche Angriff mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen muss 6.



Nicht nur in den Fällen des wieder erinnerten sexuellen Missbrauchs, sondern in allen Fällen ohne strafgerichtliches Verfahren stellt sich der Vollbeweis für die Antragstellerinnen als hohe Hürde dar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der sexuelle Missbrauch bestritten wird bzw. der Täter bereits verstorben ist und Tatzeugen fehlen. Hinzu kommt noch, dass der sexuelle Missbrauch in den Fällen einer späten Wiedererinnerung vielfach Jahrzehnte zurück liegt, so dass der Beweiserhebung bereits von daher enge Grenzen gesetzt sind.



Kann der sexuelle Missbrauch nicht beweiskräftig festgestellt werden, befindet sich die Antrag-stellerin in Beweisnot. Für diesen Fall sieht § 6 Abs. 3 OEG in Verbindung mit § 15 des Geset-zes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VfG-KOV) eine Beweiserleich-terung vor, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden der Antragstellerin verloren gegangen sind. Nach dieser Vorschrift sind die Angaben der An-tragstellerin, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen be-ziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob die von der Antrag-stellerin gemachten Angaben den behaupteten sexuellen Missbrauch in sich schlüssig und widerspruchsfrei beschreiben und im Abgleich mit den bekannten äußeren Umständen als glaubhaft anzusehen sind.



Die Notwendigkeit, die Beweiserleichterungsvorschrift anzuwenden, ergab sich in fast allen Fäl-len. Es war daher erforderlich, den Sachverhalt – mit den Einschränkungen aufgrund der weit zurück liegenden Ereignisse – so weit wie möglich aufzuklären.

Dies geschah regelmäßig dadurch, dass die Antragstellerin aufgefordert wurde, den ihr zuge-fügten sexuellen Missbrauch konkret zu beschreiben und den Täter bzw. die Täter zu benennen. Ferner sind alle Unterlagen über Krankenhausbehandlungen und die Berichte über die psychotherapeutischen Behandlungen sowie eine Krankenkassenauskunft über durchgeführte Behandlungen beigezogen worden.

Ergaben sich nach der Auswertung offene Fragen, so ist je nach Sachverhalt eine persönliche Anhörung der Antragstellerin bzw. eine weitere Befragung im schriftlichen Verfahren durchge-führt worden.



Als der Aufklärung des Sachverhalts dienlich haben sich auch Anhörungen von Geschwistern als Zeitzeugen gezeigt. So konnten auf diesem Wege Tatsachenbehauptungen der Antrag-stellerin bestätigt oder widerlegt werden. Ebenso haben auch Anhörungen von beschuldigten Vätern Aufschluss zu den Beschuldigungen geben können.



Ergaben sich nach Auswertung des Vortrags der Antragstellerin, der medizinischen Unterlagen mit den darin häufig enthaltenen Hinweisen auf äußere Fakten und der Anhörungen noch be-gründete Zweifel an den Angaben, sind sie als nicht glaubhaft im Sinne von § 15 VfG-KOV be-wertet worden. Dies führte unmittelbar zur Ablehnung des Antrags.



Selbstverständlich kann sich aber auch nach der Auswertung aller Unterlagen eine Situation ergeben, in der die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens über die Glaubhaftig-keit der Angaben der Antragstellerin erforderlich ist. Die Anforderungen, die an ein derartiges Gutachten zu stellen sind, hat der Bundesgerichtshof in einem wegweisenden Urteil 7 aufgezeigt. Es ist ratsam, im Fall eines Gutachtenauftrags Gutachter auszuwählen, die aufgrund ihrer Sachkunde auch von den Staatsanwaltschaften bzw. Strafgerichten herangezogen werden.



In den vom Verfasser bearbeiteten Fällen war es regelmäßig nicht erforderlich, ein aussage-psychologisches Gutachten einzuholen, weil bereits aufgrund der Auswertung der Unterlagen und Aussagen eine tragfähige Entscheidung möglich war.

Zu berichten ist in diesem Zusammenhang davon, dass in einem Fall von einem Anwalt die Einholung eines Gutachtens gefordert worden war, in dem die Antragstellerin sich außerstande sah, Angaben zu den behaupteten sexuellen Missbräuchen zu machen. Zugleich wurde eine Gutachterin benannt, die als Psychotherapeutin auf dem Gebiet der dissoziativen Identitätsstö-rungen arbeitet. Die Forderung des Anwalts war in zweierlei Hinsicht zurück zu weisen. Zum einen stellte sich die Frage, wie ein Gutachter, der über keine Angaben zum Schadenssachver-halt verfügt, die Glaubhaftigkeit beurteilen soll. Zum anderen verfügte die Therapeutin nicht über die Sachkunde, die erforderlich ist, um ein aussagepsychologisches Gutachten zu erstellen.





5. Bearbeitungsstandards



Angesichts der Besonderheiten, die sich bei der Bearbeitung der Fälle mit einer dissoziativen Identitätsstörung gezeigt haben, sollten bei der Bearbeitung einige Standards eingehalten wer-den.



Zur Verdeutlichung soll beispielhaft von einem Antrag ausgegangen werden, mit dem die von einem Rechtsanwalt vertretene Antragstellerin vorträgt, seit frühester Kindheit von einer Tätergruppe sexuell missbraucht worden zu sein. Zu Einzelheiten des sexuellen Missbrauchs könne sie keine Angaben machen. Hierzu sei die The-rapeutin zu befragen. Da sie sich sehr ängstige und Repressalien befürchte, wolle sie die Täter nicht benennen. Im Übrigen mache sie von ihrem Aussageverweige-rungsrecht gegenüber nahen Angehörigen Gebrauch.



Das Verwaltungspersonal, das mit einem solchen Antrag erstmals konfrontiert ist, wird sich im ersten Augenblick zu Recht fragen, wie mit diesem Antrag hinsichtlich der Aufklärung des Sachverhalts umzugehen ist.



Zunächst einmal ist zu bedenken, dass es sich bei den Antragstellerinnen um psychisch teilweise schwer kranke Menschen handelt. Sie sind selbst bei der Vertretung durch einen Anwalt vielfach nicht in der Lage, die mit einem Antragsverfahren nach dem OEG verbundenen Notwen-digkeiten zu verstehen oder gar einzusehen. Dies und die bei ihnen bestehende Vorstellung, dass die Berichte der behandelnden Psychotherapeuten in Verbindung mit der diagnostizierten „Dissoziativen Identitätsstörung“ ausreichen, um den sexuellen Missbrauch glaubhaft zu ma-chen, erklären die zu beobachtenden Widerstände gegen Maßnahmen der Beweiserhebung durch die Behörde.



Vor diesem Hintergrund wird empfohlen, die Antragstellerin bereits unmittelbar nach der An-tragstellung über die vorgesehene Aufklärung des Sachverhalts und die geltenden Beweisregeln umfassend ins Bild zu setzen. Hierbei geht es vor allem darum, der Antragstellerin deutlich zu machen, dass die Behörde aufgrund der bestehenden Vorschriften gehalten ist, Beweis zu erheben, und sie auch bestimmt, in welcher Weise dies geschieht (§§ 20, 21 SGB X).



Dies ist nicht nur aus Gründen der Offenheit und Klarheit, sondern auch deswegen angezeigt, weil einige Antragstellerinnen bzw. deren Anwälte versucht haben, eine geordnete Beweiserhe-bung zu umgehen. So ist erklärt worden, dass bestimmte Beweiserhebungsmaßnahmen nicht gewünscht werden (z.B. die Anhörung des beschuldigten Vaters), weil die bestehende Angst-problematik zu einer massiven Verschlechterung des Gesundheitszustandes führe oder die Antragstellerin Suizid gefährdet sei. So ernst diese Hinweise auf der einen Seite auch zu nehmen sind, so wenig ist es auf der anderen Seite hinnehmbar, dass damit eine für notwendig erachtete Aufklärungsmaßnahme unterbunden wird. Die Verwaltung wird daher nicht umhin kommen, beharrlich auf die von ihr einzuhaltenden Regeln hinzuweisen.



Bevor Familienangehörige, ob von der Antragstellerin beschuldigt oder nicht beschuldigt, ange-schrieben werden, sollte die Antragstellerin darüber informiert und zugleich befragt werden, ob von ihr Einwendungen erhoben werden. Wird das Einverständnis zur Aufnahme des Kontaktes verweigert, ist die Antragstellerin für den Fall, dass die Befragung des Angehörigen für unum-gänglich gehalten wird, hierauf und auf die sich ergebenden nachteiligen Folgen für die Ent-scheidung hinzuweisen.

Auf keinen Fall sollte die Beweiserhebung im Hinblick auf die vorgetragene gesundheitliche Gefährdung gegen den Willen der Antragstellerin durchgeführt werden.



Familienangehörige und beschuldigte Personen, die zum Sachverhalt angehört werden sollen, sind über das ihnen zustehende Aussageverweigerungsrecht aufzuklären (§ 21 Abs. 3 SGB X).





6. Probleme und Auffälligkeiten bei der Bearbeitung



Die Bearbeitung der Fälle mit einer dissoziativen Identitätsstörung hat gezeigt, dass ganz über-wiegend erhebliche Zweifel an dem vorgetragenen sexuellen Missbrauch bestanden. Diese Zweifel haben sich wie folgt ergeben:



• In einigen Fällen konnte ein Abgleich zwischen Tatsachenbehauptungen der Antragstellerin mit als glaubhaft einzuordnenden Angaben von Geschwistern zum gleichen Sachverhalt vorgenommen werden; die Behauptungen der Antragstellerin waren danach als falsch an-zusehen (z.B. behauptete eine Antragstellerin, dass sie von ihrem Vater seit frühester Kind-heit fast jeden Abend aus dem Bett geholt und sexuell missbraucht worden sei. Zwei ältere und aufgrund des gesamten Anhörungsergebnisses als glaubhaft einzustufende Schwestern haben dazu vorgetragen, dass die Antragstellerin von klein auf mit in ihrem Zimmer geschlafen habe und sie über die ganze Zeit keine Beobachtungen gemacht hätten, die die Behauptungen ihrer Schwester stützen könnten.)



• In einigen Fällen haben sich die Angaben der Antragstellerinnen, die sie im Laufe der Zeit anlässlich mehrerer stationärer Behandlungen gemacht hatten, als außerordentlich wider-sprüchlich heraus gestellt (z.B. ist im Rahmen der Erhebung der Vorgeschichte vorgetragen worden, dass keine sexuellen Kontakte bestanden haben und auch keine Schwangerschaft vorgelegen hat. Nach der späteren „Wiedererinnerung“ in der Psychotherapie habe es (zeit-lich vor der ersten Angabe) ständig sexuellen Missbrauch und eine Schwangerschaft gege-ben, die mit einer Abtreibung beendet worden sei. Die für diese Zeit bekannten Rahmenbe-dingungen ließen darüber hinaus die Behauptung als völlig unwahrscheinlich erscheinen.).



• In einigen Fällen haben sich allein aus der Aussageentstehung und –entwicklung erhebliche Zweifel ergeben (z.B. wurde die Antragstellerin über 7 Jahre wiederholt wegen der gestörten Mutter/Tochter - Beziehung therapeutisch behandelt. Nachdem sie an Sitzungen einer Selbsthilfegruppe für „Inzestüberlebende“ teilgenommen hatte, klagte sie erstmals über einen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater. Nach einem Therapeutenwechsel weitete sich die Beschreibung des sexuellen Missbrauchs ständig aus. Schließlich wurde vorgetragen, dass die Antragstellerin in einer satanischen Sekte sexuell missbraucht worden sei.)



Vom Verfasser sind bislang 14 dieser Fälle abgeschlossen worden. 10 Anträge sind abgelehnt und 1 Fall ist anerkannt worden. In 3 Fällen ist der Antrag zurück genommen worden.

Auch wenn diese Anzahl noch keine signifikante statistische Größe darstellt, so hat die Bearbei-tung doch ergeben, dass bestimmte wiederkehrende Muster in den Vorträgen der Antrag-stellerinnen und der Therapeuten erkennbar geworden und erste Einschätzungen möglich sind.



So war nicht zu übersehen, dass die „Wiedererinnerung“ der sexuellen Missbräuche vielfach erst nach vielen Jahren, teilweise nach Jahrzehnten, im Laufe der psychotherapeutischen Be-handlung entstanden war. Auffällig war weiter, dass mehrere Psychotherapeuten in verschiede-nen Fällen in fast wortgleicher Beschreibung von extremen sexuellen Missbräuchen berichteten. So fand sich anfangs vielfach die Angabe eines sexuellen Missbrauchs durch den Vater. Im weiteren Verlauf der Therapie wurde auch ein sexueller Missbrauch durch die Brüder benannt. Zeitlich noch später wurde dann angegeben, dass die Patientin „ritualisierten sexuellen Miss-bräuchen und Misshandlungen durch eine Tätergruppe in einer satanischen Sekte“ ausgesetzt gewesen sei 8.



Die behandelnden Psychotherapeuten sind dabei, wie sich aus ihren Therapieberichten ergab, völlig unkritisch mit den in der Therapie entstandenen Erinnerungen an die sich ausweitenden sexuellen Missbräuche umgegangen. Ein Abgleich mit den realen Umständen und Verhältnissen in der Familie der Patientin fand – soweit erkennbar – in keinem Fall statt. In einigen Fällen war aufgrund der gewählten Formulierungen unübersehbar, dass von der anhand des Krank-heitsbildes gewonnenen Diagnose einer „Dissoziativen Identitätsstörung“ auf das Trauma eines frühkindlichen sexuellen Missbrauchs zurück geschlossen worden war. So ergab sich in mehre-ren Fällen aus den Therapieberichten die Behauptung, dass der sexuelle Missbrauch „mit Sicherheit ab dem 1. Lebensjahr begonnen haben muss“. Es ist offenkundig, dass dies weder die Patientinnen noch die Therapeuten wissen konnten.



In diesem Zusammenhang muss daher darauf aufmerksam gemacht werden, dass es nach der herrschenden Lehrmeinung unzulässig ist, von einer psychischen Störung auf eine bestimmte Ursache als Auslöser der Erkrankung zurück zu schließen 9. Wenn es in den bearbeiteten Fällen gleichwohl gewichtige Hinweise auf solche Rückschlüsse gab, so könnte dies damit erklärt werden, dass die Therapeuten bei einer diagnostizierten „Dissoziativen Identitätsstörung“ in hohem Maße (bis zu 90 v.H. der Fälle) frühkindliche Traumata durch sexuellen Missbrauch er-warten.



Während in einer Reihe von Fällen unübersehbar war, dass die „Wiedererinnerung“ im Laufe der Therapie entstanden ist, zeigte sich in einigen Fällen eine andere Entstehung der Erinnerung an sexuellen Missbrauch. So war erkennbar, dass einige Patientinnen sich in der vorhandenen Literatur über die Problematik multipler Persönlichkeiten informiert hatten oder in Selbst-hilfegruppen und über Seminararbeiten im Rahmen ihres Studiums an die Thematik des sexuel-len Missbrauchs kamen. Allerdings entstanden in diesen Fällen dann später in der Therapie auf dem Boden von ersten vagen „Erinnerungsbildern“ und sog. „Körpererinnerungen“ weitere Erinnerungen an sexuelle Missbräuche.



Die bei der Bearbeitung der Antragsfälle nach dem OEG festgestellten Sachverhalte mit der genannten hohen Ablehnungsrate, zu der durchaus auch die Antragsrücknahmen hinzu ge-rechnet werden können, lässt erhebliche Zweifel an den im Laufe einer Therapie entstandenen oder sich ausweitenden „Wiedererinnerungen“ an frühkindliche sexuelle Missbräuche aufkom-men. Für die Bearbeitung der Fälle bedeutet dies, dass den von den Psychotherapeuten einge-brachten Vorstellungen über die Ursache von dissoziativen Identitätsstörungen nicht ohne wei-teres gefolgt werden darf. Vielmehr ist es notwendig, den Sachverhalt umfassend aufzuklären und eine sorgfältige Bewertung des Aufklärungsergebnisses vorzunehmen.





7. Ein Beispielsfall (Teil 2)



Aufgrund der Erklärung der Antragstellerin, dass an die Täter auf keinen Fall herangetreten werden dürfe, war die Aufklärung des Sachverhalts von vornherein nur eingeschränkt möglich. Es sind daher alle Krankenhausunterlagen und Therapieberichte sowie die Akten der Staats-anwaltschaft beigezogen und ausgewertet worden.



Zum angegebenen sexuellen Missbrauch durch den Vater vom 3. bis 13. Lebensjahr fand sich in den umfangreichen Unterlagen kein einziger Anhalt. Dagegen ergaben sich zum angegebenen sexuellen Missbrauch durch den Pflegevater vom 14. bis 16. Lebensjahr (1982 – 1984) Angaben in der Akte der Staatsanwaltschaft, die im Rahmen der kriminalpolizeilichen Vernehmung von der Antragstellerin gemacht worden sind. Danach hatte der Pflegevater die Antragstellerin im Rahmen einer Tätergruppe in einem einzeln stehenden Haus in extrem sadistischer Weise sexuell missbraucht. Eine vom Pflegevater entdeckte Schwangerschaft bei der Antragstellerin sei von ihm durch Fußtritte in den Unterleib beendet worden.



Die genaue Auswertung aller Unterlagen, die zahlreiche Angaben der Antragstellerin zu äußeren Geschehnissen wie u.a. Zeitpunkte von Schulwechseln und Zeiten eines Schulbesuchs sowie die Pflege der Großmutter und deren Todeszeitpunkt enthielten, ergab folgendes:



Im Einvernehmen mit ihren Eltern (Vater und Stiefmutter) war die Antragstellerin aufgrund von Problemen im Elternhaus im Laufe des Herbst 1985 in den Haushalt einer Lehrerin aufgenom-men worden. Der Ehemann der Lehrerin hatte Medizin studiert. Im Haushalt befanden sich mehrere minderjährige Töchter. Etwa mit dem Jahreswechsel 1985/86 hat die Antragstellerin den Haushalt der Pflegefamilie verlassen, um ihre kranke Großmutter bis zu deren Tod Mitte des Jahres 1986 zu pflegen.

Danach betrug der Aufenthalt in der Pflegefamilie etwa ein Vierteljahr. Bei diesem auch unter Berücksichtigung der Unsicherheiten kurzen Aufenthalt in der Pflegefamilie stellte sich die Fra-ge, wie der von der Therapeutin beschriebene ausufernde und angeblich von 1982 – 1984 zwei Jahre andauernde sexuelle Missbrauch durch den Pflegevater und andere Täter vonstatten gegangen sein soll. Die Angaben waren sowohl hinsichtlich des Zeitraumes als auch der Jah-resangaben nicht stimmig.



Der hier auf der Grundlage der eigenen Angaben sich ergebende Widerspruch sollte durch eine Anhörung der Pflegeeltern geklärt werden, was aber nicht das Einverständnis der Antragstellerin fand. Sie nahm ihren Antrag zurück.

Es verwundert sicher nicht, dass bei einem solch widersprüchlichen Sachverhalt auch das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren wegen fehlenden Tatverdachts eingestellt worden ist.



Dieser Fall macht aber auch deutlich, dass die mit Hilfe der Therapeutin aufgedeckten „Erinner-ungen“ an zwei Jahre andauernde extreme sexuelle Missbräuche durch den Pflegevater in einer Tätergruppe nicht stimmen können. Den Unterlagen war zu entnehmen, dass es von Seiten der Therapeutin keine auch nur oberflächliche Plausibilitätsprüfung der in der Therapie entstandenen Angaben gegeben hat.

Dagegen ergab sich aus den Unterlagen eine Reihe von Anhaltspunkten für eine andere Ent-stehungsursache hinsichtlich der psychischen Erkrankung.





8. Fazit



Die aus der Bearbeitung der Fälle mit einer dissoziativen Identitätsstörung gewonnenen Erfah-rungen geben Anlass, auf zwei Aspekte näher einzugehen.



Hierbei handelt es sich einmal um die entschädigungsrechtliche Seite. Dabei ist angesichts der Vorschrift des § 10 a OEG mit ihrem zeitlichen Geltungsbereich vom 23.05.1949 bis 15.05.1976 der Blick auf die Fälle zu richten, in denen aufgrund der späten „Wiedererinnerung“ vorgetragen wird, in der Zeit ab 1949 sexuell missbraucht worden zu sein 10. Wie zu erwarten, zeigte sich die Beweislage in den weit zurück liegenden angeblichen Missbrauchsfällen als ausgesprochen schwierig. Für die Verwaltung ist damit das Problem verbunden, trotzdem eine Entscheidung über weit zurück liegende Ereignisse treffen zu müssen, die nicht immer zufrieden stellen kann.



Es kommt hinzu, dass der bei der Anwendung der Beweiserleichterungsvorschrift des § 15 VfG-KOV für die Glaubhaftmachung geltende Beweismaßstab der „guten Möglichkeit“ 11 für Fälle dieser Art überdacht werden sollte. So ist darauf hinzuweisen, dass diese Beweiserleichterung ursprünglich in der Kriegsopferversorgung eingeführt worden war, um im Fall der Vernichtung von Beweismitteln durch die Kriegsereignisse die betroffenen Kriegsopfer nicht unversorgt zu lassen. Hierbei gab es aber regelmäßig die Möglichkeit, die Angaben des Antragstellers mit zugänglichem Quellenmaterial abzugleichen. Zudem war die Art der Körperverletzung vielfach in eindeutiger Weise auf Kriegseinwirkungen zurück zu führen. All dies stellt sich in den nach dem OEG zu beurteilenden Fällen erheblich anders dar. So ist es bei psychischen Erkrankungen nicht möglich, auf bestimmte Ursachen zu schließen.



Dies führt zu zwei Anregungen. So sollte überlegt werden, ob es nicht sinnvoll wäre, eine Befri-stung für die Anmeldung von Ansprüchen nach dem OEG einzuführen. Mit einer solchen Aus-schlussfrist würde in den weit zurück liegenden Fällen ohne zeitnahe strafgerichtliche Verfolgung der Taten der regelmäßig bestehenden Beweisnot Rechnung getragen.

Die zweite Anregung bezieht sich auf den Beweismaßstab im Fall der Beweiserleichterung, die auch weiterhin notwendig ist. Hier wäre zu überlegen, ob der Beweismaßstab dahin gehend verschärft werden sollte, dass sich das Schadensereignis zumindest mit „Wahrscheinlichkeit“ zugetragen haben muss.



Der zweite Aspekt hat damit zu tun, dass die Bearbeitung der Fälle erhebliche Zweifel an dem von psychotherapeutischer Seite behaupteten Zusammenhang einer dissoziativen Identitätsstö-rung mit frühkindlichem sexuellen Missbrauch begründet hat. Es soll daher kritisch auf das Handeln der Therapeuten hingewiesen, aber vor allem auch auf die Folgen für die erkrankten Frauen aufmerksam gemacht werden.



Die Ermittlungen haben in einer Reihe von Fällen aufgrund der Faktenlage gewichtige Anzeichen für das Vorliegen von sog. „falschen Erinnerungen“ an sexuelle Missbräuche erbracht. Dies wäre von den Therapeuten, die sich vornehmlich mit der Diagnostik und Behandlung von dissoziativen Identitätsstörungen befassen, zur Kenntnis zu nehmen. Für sie stellt sich die Frage, ob es dem Therapieziel dienlich ist, von einem unter Umständen falschen Sachverhalt auszugehen.



Aufmerksam zu machen ist aber auch auf die Folgen für die Patientinnen und ihr familiäres Um-feld. „Falsche Erinnerungen“ führen nach den Feststellungen in den bearbeiteten Fällen nicht nur zu einer nicht stimmenden erschreckenden Lebensbiografie, sondern regelmäßig auch zur Zerstörung des Familienverbandes. Es bleiben zu Unrecht beschuldigte Eltern und Geschwister zurück, die den Vorwürfen fassungslos gegenüber stehen und in der Auseinandersetzung hiermit durchaus auch seelische Störungen entwickeln können. Auf der Seite der Patientin schlagen darüber hinaus hohe Kosten für Behandlungen und vielfach vorzeitige Erwerbsunfähigkeiten zu Buche, die allerdings auch bei einer anderen Entstehungsursache für die psychische Erkrankung hätten entstehen können.



Zum Abschluss soll in diesem Zusammenhang noch von dem Schicksal eines Vaters berichtet werden, der im Jahre 2003 vom Landgericht Hannover wegen „wieder erinnerten“ sexuellen Missbrauchs seiner Tochter zu 8 Jahren Haft verurteilt worden war, obwohl die Staatsanwalt-schaft Freispruch beantragt hatte. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf und verwies es zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts. Der Vater hatte zu diesem Zeitpunkt bereits über ein halbes Jahr Haft hinter sich. Nach Einholung eines weiteren Gutachtens wurde der Vater inzwischen frei gesprochen 12.

Der Vorsitzende Richter der ersten Verhandlung wurde mit der Äußerung zitiert, dass „niemand sich solche Misshandlungen ausdenken kann“.



Abgesehen davon, dass eine solche Gedankenführung zu einer falschen Schlussfolgerung ver-führt, muss niemand sich derartige Misshandlungen ausdenken. Die in den bearbeiteten Fällen beschriebenen extremen Missbräuche finden sich nämlich in der einschlägigen Literatur seit den 90‘er Jahren geschildert 13.



























Anmerkungen



1. Aufsatz von Dr. Ursula Gast „Multiple Persönlichkeit; Das bin nicht ich – Überleben in ande-rer Identität“ in dem Magazin „Gehirn & Geist“ Dossier Nr. 1/2004 S. 14 ff.



2. Aufsatz von Simmich „Diagnostische, forensische und behandlungsethische Aspekte zur Problematik Psychotherapie induzierter sexueller Missbrauchserlebnisse“ in „Der Nerven-arzt“ Heft 11/1999, S. 1009 ff. Ferner Aufsatz von Stoffels und Ernst „Erinnerung und Pseu-doerinnerung; Über die Sehnsucht, Traumaopfer zu sein“ in „Der Nervenarzt“ Heft 05/2002, S. 445 ff. Weiter Renate Volbert „Beurteilung von Aussagen über Traumata“, 1. Auflage 2004, S. 105 ff, Verlag Hans Huber. Wer sich tiefer gehend mit der Problematik befassen möchte, dem sei insbesondere das Buch von Renate Volbert empfohlen.



3. Aufsatz von Loftus „Falsche Erinnerungen“ in „Spektrum der Wissenschaft“ Heft 01/1998,

S. 62 ff.



4. s. Stoffels unter Nr. 2, dort S. 449 und Bericht „Floras Erzählungen“ in „Der Spiegel“ Heft 44/1998 S. 230 ff.



5. Urteil des BSG vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 -



6. Urteil des BSG vom 22.06.1998 - 9/9a RVg 3/87 - mit weiteren Nachweisen (BSGE 63 S. 270 ff)



7. Urteil des BGH vom 30.07.1999 - 1 StR 618/98 -



8. Michaela Huber „Multiple Persönlichkeiten; Überlebende extremer Gewalt“, Erstausgabe 1995, Fischer – Verlag. Eine Erklärung für die fast wortgleichen Beschreibungen könnte sich daraus ergeben, dass in dem Buch entsprechende Schilderungen enthalten sind und The-rapeuten sich nach eigener Einlassung bei der Behandlung von Patientinnen an Empfehl-ungen des Buches hielten. Ebenso ergab sich aus den Aktenunterlagen, dass auch Antrag-stellerinnen sich durch das Buch informiert hatten.



9. Zu dieser Frage ist in einem Fall ein Fachgutachten eingeholt worden, in dem diese Auffas-sung vertreten worden ist.



10. In 13 von 14 Fällen begann der vorgetragene sexuelle Missbrauch vor dem 16.05.1976, davon in 2 Fällen bereits in den 40‘er Jahren. In 6 Fällen endete er in der Zeit vor dem 16.05.1976.



11. Urteil des BSG vom 03.02.1999 - B 9 V 33/97 R - mit weiteren Nachweisen



12. Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 04.03.2003 und vom 09.09.2004



13. vgl. Nr. 8

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