Dienstag, 7. September 2010

Psycho-Kritik

Kopie genehmigt von Autorin Kerstin Kempker

Rezension zu

Michaela Huber: "Multiple Persönlichkeiten. Überlebende extremer Gewalt. Ein Handbuch"
in: Psychosoziale Umschau (BRD), 10. Jg. (1995), Nr. 1, S. 26 - 27

Endlich gibt es sie, die neue Diagnose im unwirtlichen Niemandsland zwischen Psychiatrie und feministischer Psychotherapie:

"Eine Multiple ist eine Frau, die sich als kleines Mädchen aufgrund der (sexuellen) Mißhandlung in mehrere 'Personen' aufgespalten hat, die später nacheinander die Kontrolle über ihr Denken, Fühlen und Verhalten übernehmen und sich als eigenständige 'Ichs' fühlen."

Michaela Huber, Psychotherapeutin, hat das erste deutschsprachige Buch über "Multiple Persönlichkeiten – Überlebende extremer Gewalt" geschrieben, "ein Therapie-Handbuch". Von Geschichte und gesellschaftlichen Hintergründen über Statistik, Diagnostik und Prognosen bis hin zur Therapie erklärt sie uns alles:

"Seit den frühesten Höhlenzeichnungen gibt es die Grundformen multipler Persönlichkeit." Auch viele verbrannte "Hexen" des Mittelalters waren vermutlich "in Wirklichkeit multiple Persönlichkeiten". "Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS, K.K.) ist eine schwere psychische Störung, die unbedingt behandelt werden muß." "Eine Psychotherapie mit einer Multiplen dauert auf jeden Fall mehrere hundert Therapiestunden; realistisch sind vier bis acht Jahre", "etwa 1% (der Bevölkerung, K.K.) könnte eine Multiple Persönlichkeitsstörung haben." "Nein, Multiple sind nicht verrückt."

Huber weiß, was "in Wahrheit" und "in Wirklichkeit" wahr ist. Sie nimmt uns an die Hand und führt uns unter wiederholten Beschwörungen ("Halten Sie durch!" 4x; "Geben Sie nicht auf!" 5x) durch gefährliches Terrain: Satanische Folterrituale ("Das haben Hunderte, wenn nicht Tausende von Kindern hierzulande ebenfalls erlebt"); Programmierungen durch Tätergruppen und Deprogrammierungen in der Therapie ("Auslösereiz neutralisieren", "teilweise Amnesie schaffen", "Programm-Vernichtungs-Ritual"). Sie warnt, lobt und bittet uns, lullt uns ein in fast hypnotisierenden Wiederholungsschleifen und bedient so eine auch unter kritischen Geistern verbreitete Erwartung: das Unverständliche verstehen und benennen zu können, das Böse zu erkennen und zu wissen, was auf der Seite des Guten zu tun ist.

Was macht dieses Taschenbuch, das alle Zutaten eines Verkaufsschlagers aufweist (sex and crime, Feminismus, Erfahrungsberichte, Bilder, das Grauen pur und seine Bekämpfung), bei aller therapeutischen Nutzbarkeit (200 Seiten Therapie) letztlich doch so ärgerlich und auch gefährlich?

Einmal ist es die ständige Vereinnahmung durch die Autorin. Warum betreibt sie Massentherapie mit Tips an alle, statt sich auf Fakten zu beschränken? Ebenso unangenehm war mir die Fraglosigkeit, mit der Huber ihre Meinungen als letzte Weisheiten verkauft. Gibt es denn keine gravierenden Probleme bei der Therapie so schwer traumatisierter Frauen? Wie geht sie mit der ungeheuren Macht um, die sie deprogrammierend und hypnotisierend ausübt? Kein Wort zu Manipulation, Abhängigkeit (auch finanziell), Isolation in der Therapie.

Mit Zahlen hantiert sie recht sorglos. Sind jetzt "40% aller Schizophrenen", "aller als 'schizophren' diagnostizierten Psychiatrie-Patienten" oder aller "als 'schizophren' diagnostizierten KlientInnen in Wirklichkeit multipel"? 40% scheint eine magische Zahl zu sein, denn irgendwann sind plötzlich nicht mehr 40% der "Schizophrenen" multipel, sondern 40% der Multiplen als 'schizophren' fehldiagnostiziert.

Warum Michaela Huber die Diagnose MPS nicht nur als Kröte schluckt, sondern deren Aufnahme in die internationale Diagnostik-Bibel DSM-III im Jahre 1980 als Erfolg wertet, wird begreiflicher, wenn sie von Psychiatern, Gutachtern, Klinikchefs und anderen Autoritäten spricht. Denn

"wenn jemand in einer so mächtigen Position sagt: 'Alles Quatsch, die Klientin macht Ihnen was vor' (...) – dann sagen Sie mal etwas dagegen! Dann müssen Sie schon mit einer sauberen Diagnose kommen, die Sie möglichst mit anerkannten diagnostischen Instrumenten (etwa Fragebogen) gewonnen haben."

MPS läßt sich also eindeutig diagnostizieren, es gibt sogar "verläßliche Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen 'echten' und 'falschen' Multiplen", z.B. sind bei den "echten" schon – je nach "Person" – unterschiedliche EEGs, Stoffwechsel, Augenfarben oder Schuhgrößen gemessen bzw. gesichtet worden.

Die scharfe Grenzziehung zwischen MPS und "Schizophrenie" ist Huber ein besonderes Anliegen, sie bittet dringend darum, eine "verhängnisvolle Fehldiagnose" zu verhindern. Denn "multiple Persönlichkeiten gehören in der Regel nicht in die Psychiatrie." Wer aber gehört hinein? "Schizophrene" Persönlichkeiten? Wo beginnt, wo endet die Persönlichkeit? "Schizophren" heißt für Huber u.a.:

"Unverständliches vor sich hin brabbeln (...); im sozialen Kontakt völlig unzugänglich sein (mit Multiplen kann man sich 'ganz normal' unterhalten)".

"Multiple Persönlichkeiten aber haben keine Wahnvorstellungen. Die Stimmen in ihrem Innern erzählen die Wahrheit. Auch wenn es oft einander widersprechende Wahrheiten sind. Es sind die Wahrheiten, die die 'Innenpersonen' kennen. (...) Das ist jedoch etwas völlig anderes als Wahnvorstellungen, wie wir sie von 'echten Schizophrenen' kennen, die sich von UFOs aus dem All verfolgt fühlen oder einen Tiger auf dem Balkon wähnen. Nein, Multiple sind nicht verrückt."

Nein, sie geht noch weiter:

"Es häufen sich inzwischen die Hinweise darauf, daß Schizophrenie eher eine organische Erkrankung des Gehirns darstellt."

Und welche organischen Ursachen hat der Zeitgeist oder die Homosexualität? Um die folgenden Unglaublichkeiten nicht ganz in den eigenen Mund zu nehmen, zitiert Huber den Psychiater Colin Ross, "einen der Pioniere der modernen MPS-Forschung": "Schizophrenie hieß zunächst dementia praecox (vorzeitige Verblödung, K.K.), bis Bleuler den Begriff Schizophrenie einführte. 'Dementia praecox' ist tatsächlich eine bessere Bezeichnung als 'Schizophrenie' für diese Gruppe von Störungen; während 'Schizophrenie' eine bessere Bezeichnung für MPS darstellt."

Während die Verrückten also unheilbar krank zum Anstaltsleben verdammt sind, kann den "fehldiagnostizierten" Multiplen noch Hilfe zuteil werden. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Diese neue (?) Art von Auslese wird auch den Multiplen letztlich nichts nützen, denn schon fordern Michaela Huber und Anne Jürgens, die Autorin des Klinik-Kapitels, für Multiple "vor allem: Klinikplätze zur Krisenintervention und Langzeittherapie; am besten eigene Stationen in psychosomatischen bzw. psychiatrischen Kliniken". "Medikamente sind gezielt einsetzbar." Gezielt heißt hier "Personen"-bezogen. Es ist gar nicht auszudenken, welche Haupt- und Nebenwirkungen solche Medikamenten-Cocktails im gemeinsamen Körper einer multiplen Persönlichkeit auslösen.

Rückwärts in Siebenmeilenstiefeln. Der erste Schritt ist getan: "Feministische" Therapeutinnen gehen in die Anstalten, fegen die Nur-"Schizophrenen" auf die Endstationen und zeigen ihren Kollegen und Vorgesetzten, daß sie psychiatrische Diagnostik beherrschen und ernstzunehmen sind.

Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995. DM 19,90
© 1995 by Kerstin Kempker. Alle Rechte vorbehalten

Kritik vom Verfasser
Meine Tochter,die von Mitautorin Anne Jürgens behandelt wurde,

stellte nach über 30 Jahren ihres vermeintlichen sexuellen Kindesmißbrauchs einen Opferentschädigungsantrag als DIS-Kranke mit fast wortgleichen Beschreibungen aus dem Buch.
Er wie andere 13 von 14 Anträgen wurden vom Sozialamt abgelehnt,
weil Diagnosen einer multiplen Persönlichkeit nicht stichhaltig waren und
sexuelle Kindesmißbräuche in der Therapie induziert schienen.
Mir erscheint das Buch als Marketingschrift für zweifelhafte Therapieangebote
in einem apodiktischem Stil und mit wahnhaften Vorstellungen.

1 Kommentar:

  1. Mir wurde das Buch während meiner "Multiplen Zeit" zum Verhängnis, weil es nicht differenziert. Es erklärt z.B. nicht, wann Zweifel des Klienten an der DIS-Diagnose des Therapeuten berechtigt sind. Als ich die DIS-Diagnose meiner Therapeutin anzweifelte, erklärte mir dieses Buch "Dann sind sie wohl die Gastgeberin!? Gastgeberinnen wollen nun mal nicht glauben, dass sie multipel ist". Als ich verwirrt fragte, wieso ich denn vor der Therapie keine anderen Persönlichkeiten wahrnahm, gab mir das Buch eine ganz einfache logische Erklärung: Ich war halt amnestisch, den anderen Persönlichkeiten gegenüber. Auch die Tatsache, dass ich gar keine Stimmen höre wird ganz einfach erklärt: Amnesie, die Persönlichkeiten wollen mich schützen, ... Als ich begann meine in der Therapie induzierten falschen Missbrauchserinnerungen zu hinterfragen, gab mir dieses Buch die Antwort: Alles ganz normal, die Täter hätten mir falsche Erinnerungen induziert (Cover-Programm) um die wahren, noch viel schlimmeren Erinnerungen (nämlich ein ritueller Missbrauch mit Kindstötung und allem drum und dran) zu vertuschen. Auch meine Wechseljahre bekamen eine ganz einfache antowrt: Ich bin nun mal gerade ein Mann, es sei ja schließlich bekannt, dass jede Persönlichkeit ihre eigenen physiologischen Reaktionen hat, usw. usw.

    Fünf Jahre lang lebte ich eine iatrogen induzierte falsche Identität als Multiple Persönlichkeit. Inzwischen habe ich Klage gegen zwei der Therapeuten eingereicht, die nicht in der Lage waren, die Depersonalisationsstörung, die bei mir in Wahrheit vorlag, von der Multiplen Persönlichkeitsstörung zu trennen. Wie auch, es wird ja nicht und nichts differenziert. Egal was man hat, ob man nun Stimmen hört oder nicht, ob man Persönlichkeiten wahrnimmt oder nicht, ... alles ist ein Beweis dafür, dass man multipel sein muss.

    Als ich meine Erfahrung "Induzierte falsche sexuelle und rituelle Missbrauchserinnerungen und Multiple Persönlichkeitsstörung" dem Verlag vorlegte, erhielt ich die Antwort "zu heißes Eisen". Aber ein Buch, das nicht mal ansatzweise differenziert, wird veröffentlicht. Der Schaden, der durch ein solches Buch bei Klienten entsteht ist hingegen ein zu heißen Eisen. Sowas darf nicht veröffentlicht werden.

    Meine ganze Erfahrung kann bei Interesse hier nachgelesen werden:
    http://www.induzierte-erinnerungen.com

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